Das Paradox der modernen Verkaufswelt
Hier ist eine unbequeme Wahrheit: Die besten Verkäufer in deinem Unternehmen arbeiten wahrscheinlich nicht im Vertrieb. Sie sitzen in der Entwicklung, im Design-Team oder im Support. Sie verkaufen jeden Tag, ohne es zu merken. Und sie sind verdammt gut darin.
Währenddessen kämpft dein Vertriebsteam mit Einwänden, baut Druck auf und fragt sich, warum die Kunden so misstrauisch sind. Sie haben alle Verkaufstrainings besucht, kennen jede Closing-Technik und trotzdem wird es immer schwerer.
Das liegt nicht daran, dass sie schlechte Verkäufer sind. Es liegt daran, dass sie versuchen zu verkaufen, statt zu helfen. Während die „Nicht-Verkäufer“ in deinem Unternehmen genau das Gegenteil machen: Sie lösen Probleme. Ehrlich. Ohne Hintergedanken.
Warum ein Entwickler natürlich verkauft
Stell dir vor, ein Kunde ruft an. Problem mit der Software. Der Vertriebsmitarbeiter würde sagen: „Das ist ein bekanntes Feature-Gap. Aber wir haben da eine Premium-Lösung für dich…“ Der Entwickler sagt: „Ah, das kenne ich. Das ist tatsächlich ein Bug. Lass mich mal schauen… okay, hier ist ein Workaround. Und nächste Woche haben wir den Fix deployed.“
Wer hat gerade verkauft? Richtig, der Entwickler. Ohne es zu wollen. Er hat Vertrauen aufgebaut, Kompetenz bewiesen und gezeigt, dass ihm der Kunde wichtig ist. Der Kunde wird sich merken: „Bei denen kümmert man sich wirklich um meine Probleme.“ Das ist Verkaufen in Reinform. Nur nennt es niemand so.
Die natürlichen Verkaufsvorteile der „Nicht-Verkäufer“
Entwickler haben Glaubwürdigkeit. Wenn ein Entwickler sagt „Das geht nicht“, glaubt man ihm. Wenn ein Verkäufer sagt „Das geht nicht“, denkt man: „Der will mir nur was anderes verkaufen.“ Entwickler müssen ihre Glaubwürdigkeit nicht erst aufbauen – sie haben sie automatisch. Kunden wissen: Ein Entwickler hat keinen Grund zu lügen. Er bekommt keine Provision. Er will nicht verkaufen. Er will nur, dass die Technik funktioniert. Diese Motivationsklarheit ist Gold wert.
Designer verstehen wirklich, was Kunden brauchen. Ein guter Designer denkt immer aus Nutzersicht. „Wie würde ich das verwenden? Wo würde ich hängenbleiben? Was würde mich nerven?“ Das ist die Grundlage für jeden guten Verkauf: echtes Verständnis der Kundenperspektive. Verkäufer lernen in Trainings, sich in den Kunden hineinzuversetzen. Designer machen das beruflich. Jeden Tag. Bei jedem Interface, bei jeder Funktion.
Supportler kennen die echten Probleme. Während Verkäufer Features präsentieren, lösen Supportler echte Probleme. Sie wissen, womit Kunden wirklich kämpfen. Welche Funktionen genutzt werden und welche nicht. Was kompliziert ist und was intuitiv. Diese Erfahrung ist unbezahlbar. Ein Supportler kann ehrlich sagen: „Diese Funktion nutzen 90% unserer Kunden für genau dein Problem.“ Das ist authentischer als jede Verkaufspräsentation.
Marcus Aurelius und die Tugend der Nützlichkeit
Der römische Kaiser und Philosoph Marcus Aurelius schrieb: „Was nicht nützlich für den Schwarm ist, kann auch nicht nützlich für die Biene sein.“ Entwickler, Designer und Supportler leben diese Philosophie. Sie fragen sich automatisch: „Ist das nützlich für den Nutzer?“ Nicht: „Kann ich das verkaufen?“
Diese Haltung ist revolutionär. Statt zu überlegen, wie sie etwas verkaufen können, überlegen sie, wie sie helfen können. Und paradoxerweise verkauft sich Hilfe besser als jeder Verkaufsversuch. Marcus Aurelius hätte wahrscheinlich ein lausiger traditioneller Verkäufer abgegeben. Zu ehrlich, zu direkt, zu wenig manipulativ. Aber er wäre ein fantastischer moderner Verkäufer gewesen. Einer, der durch Nützlichkeit überzeugt.
Warum traditionelle Verkäufer es schwerer haben
Sie müssen verkaufen. Das ist ihr Job. Ihr Gehalt. Ihre Existenz. Dieser Druck macht ehrliche Beratung schwer. Wie objektiv kannst du sein, wenn dein Bonus davon abhängt, dass der Kunde das teure Paket nimmt? Entwickler, Designer und Supportler haben diesen Druck nicht. Sie können ehrlich sagen: „Für dein Problem reicht die Basis-Version völlig.“ Verkäufer können das nicht, ohne ihre Provision zu gefährden.
Sie denken in Abschlüssen. Verkäufer sind darauf trainiert, Geschäfte zu machen. Jeden Monat. Jedes Quartal. Diese Kurzfristigkeit führt zu Entscheidungen, die langfristig schaden. Hauptsache, der Deal kommt zustande. Technische Teams denken langfristig. „Wird das in zwei Jahren noch funktionieren? Wird der Kunde damit glücklich sein?“ Diese Perspektive baut nachhaltige Beziehungen.
Sie sprechen Verkäufer-Sprache. „ROI“, „Synergien“, „Win-Win-Situation“ – Verkäufer reden, wie Verkäufer reden. Kunden erkennen das sofort und schalten auf Abwehr. Entwickler reden wie Menschen. „Das Problem hatte ich auch mal. Hier, probier das aus.“ Direkt, ehrlich, hilfreich. Keine Verkaufssprache, sondern menschliche Kommunikation.
Die unsichtbare Verkaufsarbeit im Unternehmen
Der Support, der zum Berater wird: Ein Kunde ruft an: „Eure Software ist zu langsam.“ Der Supportler fragt nach, analysiert das Setup und findet heraus: Die Hardware ist für die Datenmenge zu schwach. Statt nur zu sagen „Das liegt an deiner Hardware“, erklärt er das Problem, zeigt Lösungsoptionen und empfiehlt die wirtschaftlichste Variante. Am Ende kauft der Kunde nicht nur neue Hardware, sondern upgrades auch die Software für bessere Performance. Das war Verkauf. Nur hat es sich nicht so angefühlt.
Der Entwickler im Kundengespräch: Ein potenzieller Kunde will wissen, ob eine spezielle Integration möglich ist. Der Verkäufer sagt: „Ja, klar, das ist kein Problem.“ (Obwohl er keine Ahnung hat.) Der Entwickler, der zufällig dabei ist, sagt: „Das ist technisch machbar, aber du solltest wissen, dass es Performance-Auswirkungen haben könnte. Lass mich dir zeigen, wie wir das bei einem ähnlichen Kunden gelöst haben.“ Wem vertraut der Kunde mehr? Dem Verkäufer, der alles für möglich hält? Oder dem Entwickler, der ehrlich über Grenzen und Alternativen spricht?
Der Designer, der Bedürfnisse erkennt: In einem Workshop zeigt ein Designer dem Kunden verschiedene Interface-Optionen. Dabei merkt er: Der Kunde braucht gar nicht das komplexe Enterprise-Paket. Ein einfacheres Interface würde viel besser passen. Er sagt das. Ehrlich. Auch wenn es bedeutet, dass das Unternehmen weniger verkauft. Der Kunde ist begeistert von der ehrlichen Beratung und wird langfristig ein treuer Partner.
Warum Authentizität das neue Verkaufen ist
In einer Welt voller Verkaufstricks und Marketing-Bullshit ist Authentizität zur Superkraft geworden. Menschen sehnen sich nach ehrlichen Gesprächen. Nach Beratung ohne Hintergedanken. Entwickler, Designer und Supportler sind authentisch, weil sie es sich leisten können. Sie müssen nicht verkaufen. Sie können ehrlich sein. Und paradoxerweise macht sie das zu besseren Verkäufern.
Wenn ein Entwickler sagt „Das ist eine schlechte Idee“, hört man zu. Wenn ein Verkäufer das sagt, fragt man sich: „Was will er mir stattdessen verkaufen?“ Diese Glaubwürdigkeit ist in unserer misstrauischen Welt unbezahlbar. Menschen vertrauen denen, die nichts verkaufen wollen, mehr als denen, die verkaufen müssen.
Die neue Rolle des Vertriebs
Das bedeutet nicht, dass Vertrieb überflüssig wird. Aber seine Rolle muss sich ändern. Vom Verkäufer zum Enabler. Vom Pitcher zum Koordinator. Der moderne Verkäufer orchestriert Gespräche. Er bringt den Kunden mit den richtigen Experten zusammen. Er sorgt dafür, dass der Entwickler, der Designer oder der Supportler ihre Verkaufsmagie entfalten können. Er fragt nicht: „Wie verkaufe ich das?“ Sondern: „Wer in meinem Team kann diesem Kunden am besten helfen?“
Praktische Schritte für Unternehmen
Lass deine Experten mit Kunden sprechen. Nicht nur bei technischen Problemen. Auch bei Verkaufsgesprächen. Ein Entwickler im Verkaufsgespräch kann mehr Vertrauen aufbauen als zehn Verkaufspräsentationen. Natürlich müssen sie vorbereitet werden. Aber die Investment lohnt sich. Kunden lieben es, mit den Menschen zu sprechen, die das Produkt tatsächlich bauen.
Teach them to fish (but keep it simple). Du musst aus deinen Entwicklern keine Verkäufer machen. Aber ein paar Grundlagen helfen: Wie führe ich ein Kundengespräch? Wie höre ich richtig zu? Wie erkenne ich Kaufsignale? Nicht monatelange Verkaufstrainings. Ein Tag reicht. Sie haben schon die wichtigste Eigenschaft: echtes Interesse an Lösungen.
Ändere die Incentives. Warum bekommt nur der Vertrieb Provisionen? Wenn ein Supportler durch gute Betreuung einen Kunden zum Upgrade bewegt, sollte er daran beteiligt werden. Das schafft eine Kultur, in der jeder verkauft. Nicht durch Druck, sondern durch gute Arbeit.
Nutze ihr Fachwissen für Content. Lass deine Entwickler Blogposts schreiben. Deine Designer Case Studies erstellen. Deine Supportler FAQ-Videos machen. Authentischer Content verkauft besser als jede Werbeanzeige. Menschen vertrauen Experten. Mach deine Experten sichtbar.
Was Verkäufer von „Nicht-Verkäufern“ lernen können
Höre auf zu verkaufen, fang an zu helfen. Das ist nicht nur ein Spruch, das ist eine Haltungsänderung. Frag dich bei jedem Kundenkontakt: „Wie kann ich helfen?“ Nicht: „Wie kann ich verkaufen?“ Hilfe verkauft sich von selbst. Du musst sie nur anbieten.
Sei ehrlich über Grenzen. Sag „Das geht nicht“ oder „Das ist nicht optimal“, wenn es stimmt. Deine Ehrlichkeit über Grenzen macht deine Empfehlungen glaubwürdiger. Ein Verkäufer, der auch mal abrät, baut mehr Vertrauen auf als einer, der alles für perfekt hält.
Denke langfristig. Nicht jeder Kunde muss dieses Quartal abschließen. Manchmal ist es besser zu warten. Manchmal ist es besser, weniger zu verkaufen. Diese Geduld zahlt sich langfristig aus. Mit besseren Kunden, längeren Beziehungen, mehr Empfehlungen.
Lerne das Produkt wirklich kennen. Nicht nur die Features und Preise. Wie funktioniert es wirklich? Wo sind die Grenzen? Wie nutzen es andere Kunden? Echtes Produktverständnis ist der Unterschied zwischen einem Verkäufer und einem Berater.
Die Revolution hat schon begonnen
In den erfolgreichsten Unternehmen verschwimmen die Grenzen zwischen Vertrieb und anderen Abteilungen. Jeder verkauft. Nicht durch Druck, sondern durch Exzellenz. Bei Slack verkaufen Entwickler durch ihre API-Dokumentation. Bei Figma verkaufen Designer durch ihre Community-Beiträge. Bei Zendesk verkaufen Supportler durch ihre Lösungskompetenz. Das ist die Zukunft. Eine Welt, in der die besten Verkäufer gar nicht im Vertrieb arbeiten. Eine Welt, in der Verkaufen bedeutet: So gut sein, dass Kunden nicht anders können.
Ein Experiment für dein Unternehmen
Probier es aus. Nimm deinen besten Entwickler, Designer oder Supportler mit in das nächste wichtige Verkaufsgespräch. Nicht als stummer Experte, sondern als gleichberechtigter Gesprächspartner. Lass ihn seine Sicht erklären. Seine Einschätzung geben. Seine Bedenken äußern.
Du wirst überrascht sein. Der Kunde auch. Aber positiv. Denn zum ersten Mal seit langem sitzt ihm jemand gegenüber, der verkauft, ohne verkaufen zu wollen. Der hilft, ohne zu tricksen. Der ehrlich ist, weil er es sich leisten kann. Das ist die Zukunft des Verkaufens. Und sie beginnt nicht im Vertrieb.
Der Mensch hinter der Funktion
Am Ende geht es um etwas Einfaches: Menschen kaufen von Menschen, denen sie vertrauen. Und Vertrauen entsteht durch Kompetenz, Ehrlichkeit und echtes Interesse am Kunden. Entwickler, Designer und Supportler haben das von Natur aus. Sie müssen es nur nutzen lernen. Verkäufer müssen es sich zurückerobern. Den Mut zur Ehrlichkeit. Die Geduld für langfristige Beziehungen. Das Vertrauen, dass Hilfe sich auszahlt.
In einer Welt voller Verkaufstricks ist der größte Trick, gar nicht zu tricksen. Einfach gut zu sein. Hilfreich zu sein. Menschlich zu sein. Das können alle lernen. Entwickler, Designer, Supportler. Und auch Verkäufer. Die Frage ist nur: Wer fängt zuerst an?